Literatur, Theater und Film als Formen ethischer Kommunikation. Zum komplexen Verhältnis von Ethik und Ästhetik

  • Termin: Di., 11. Oktober 2016, 18:00 Uhr
  • Leitung: Prof. Dr. Manemann
  • Ort: fiph, Gerberstr. 26, Hannover
Fellow-Vortrag I: Prof. Dr. Maria-Sibylla Lotter (Bochum)

Während Sokrates in Platons Politeia so wenig von der moralischen Kompetenz der Dichter hielt, dass er diese „Lügner“ aus dem idealen, nach Prinzipien der Gerechtigkeit geordneten Staat hinauswerfen wollte, erhofften sich Dichter wie Corneille, Lessing und Schiller im Zeitalter der Aufklärung vom Trauerspiel eine nachhaltigere moralische Besserung als von der Lektüre abstrakter Abhandlungen über Moral. Diese Hoffnungen wirken bis heute fort: Während gegen die philosophische Ethik bis heute der Vorwurf erhoben wird, sie fokussiere sich zu sehr auf rationale Prinzipien, auf Unparteilichkeit, Universalität und Allgemeinheit, scheinen Literatur und andere narrative Kunstformen eher geeignet, die moralische Motivation und das Mitgefühl mit den Mitmenschen zu entwickeln. Freilich gab es auch immer kritische Stimmen wie die Rousseaus, die einwandten, der Dichter sei doch bloß ein Opportunist, darauf angewiesen, die törichten Meinungen und Neigungen des Publikums zu bedienen – nur Sittenverderbnis, aber keine sittliche Bildung sei davon zu erwarten. Gleichwohl schreiben auch im 20. Jahrhundert Philosophinnen und Philosophen wie John Dewey, Richard Rorty, Martha Nussbaum, Iris Murdoch und Stanley Cavell der Kunst wieder die Fähigkeit zu, neue, moralisch relevante Chancen der Selbst- und Welterfahrung zu eröffnen. Der Vortrag greift einige dieser Überlegungen auf und erläutert sie mit literarischen Beispielen. Dabei wird die These vertreten, dass die eigentümliche moralische Leistung von fiktiven Narrationen nicht in der Vermittlung moralischer Normen und Ideale liegt, sondern in der Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit und des Verstehens menschlichen Handelns.

 

Prof. Dr. Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Ethik und Ästhetik am Institut I für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht über die Grundlagen einer Ethik des Alltagslebens, mit besonderer Berücksichtigung der Themen Schuld und Verantwortung, Lüge und Selbstbetrug und dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin (Suhrkamp) 2012; eine Übersetzung mit Einleitung von: Stanley Cavell: Cities of Words. Ein moralisches Register in Film, Literatur und Philosophie, Zürich (Chronos) 2010; Die Metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie, in der Reihe Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, hg. v. Gerhard Funke und Rudolf Malter, Hildesheim/Zürich/New York (Olms) 1996.